Annette et Lubin


Handlung | Schlüsselwerk des Musiktheaters | Entstehung | Musik und Intertextualität | Hybridedition


Live-Mitschnitt (erstellt von Mitarbeitern der OPERA-Redaktion) „Musik im Landtag“ (Mainz) vom 28. Mai 2013 mit reduziertem Ensemble, Sopran: Elisabeth Scholl
Air „Monseigneur, Lubin m'aime“

PERSONEN
Annette – Sopran (c’–g’’)
Lubin – Tenor (B-a’)
Le Seigneur – Tenor (e–a’)
Le Bailli – Tenor (B–g’)
Le Domestique – Bariton (e–e’)
Arlequin – Bariton (e–f’)
Le Carillonneur – Bariton (e–f’)

Der „ton d’Opéra“ war etwa einen Ganzton unter dem heutigen Kammerton. Diese Stimmung galt wahrscheinlich auch für die Comédie-Italienne.


ORCHESTER
2 Flöten
Streicher (Vl. I, Vl. II, Alto, Bs)
Basso continuo


Thematik und Handlung

Sämtliche Werke Justine Favarts behandeln ein- und dasselbe Thema, nämlich die ‘natürliche’, von finanziellem oder ständischem Kalkül freie ‘Erste Liebe’, die von außen, durch aristokratisch-vormächtige und reiche Konkurrenten in Gefahr gebracht wird. In der weiblichen Hauptrolle, die Justine Favart dabei jedes Mal sich selbst ‘auf den Leib geschrieben’ hat, spielt sie stets die Rolle des ‘einfachen’, vom Lande stammenden Mädchens. Das heute bekannteste der sechs explizit unter ihrem Namen veröffentlichten Werke ist sicherlich die Musikkomödie Les amours de Bastien et Bastienne aus dem Jahr 1753, da bekanntermaßen der junge Mozart darauf zurückgreifen sollte. Im 18. Jahrhundert freilich blieb Mozarts Version ohne jede Öffentlichkeitswirkung, während Madame Favarts Original beachtlichen Erfolg weit über Paris hinaus hatte. Jean-Jacques Rousseau hatte 1753 als Librettist und Komponist ‘in Personalunion’ in der Opéra ein Werk auf die Bühne gebracht – Le devin du village (dt. Der Dorfwahrsager) –, welches im Verein mit einer Serie von Produktionen einer italienischen Operntruppe geeignet war, die etablierte französische Operntradition in der Lully/Quinault-Nachfolge grundsätzlich in Frage zu stellen. Zur Debatte stand, flankiert vom frühaufklärerischen Politik- und Moraldiskurs, eine radikale Vereinfachung von Text wie Musik; als Ideal stand die ‘Natürlichkeit’ von (Theater)Kunst im Raum. Bastien et Bastienne transferiert Le devin du village von der Bühne der Opéra auf die Bühne der Comédie-Italienne; dies ging zwar in bester Haustradition mit der Verwendung musikalischer Zitate und bekannter Melodien einher, aber gleichzeitig erreichte Justine Favart eine für den Parodienbetrieb ganz neue Ernsthaftigkeit, einen ganz neuen Realismus der schauspielerischen Darstellung (bis hin zu den Kostümen) und eine Abkehr von einem primär ironischen Umgang mit der Musik zugunsten einer ‘eigentlichen’ Verwendung der Musik als Mittel des ‘wahren’ Gefühlsausdrucks.
Dies gilt auch für die Verskomödie Annette et Lubin, vielleicht Favarts besten Theatertext, der knapp zehn Jahre nach Bastien et Bastienne den Schluss ihrer Werkserie markiert. Die Handlung folgt sehr genau der literarischen Vorlage Marmontels. In dieser “histoire véritable”, die auf einer zeitgenössischen Begebenheit im nordfranzösischen Cormeilles beruht, werden Lubin und seine Cousine Annette von einem Vogt (“dem Mann des Gesetzes”) wegen ihrer Liebe scharf verurteilt. Annette erwartet ein uneheliches Kind, was dem Landvogt (Le Bailli), der selbst ein Interesse an der jungen Frau hat, Gelegenheit verschafft, sie zu bedrohen und zu erpressen: Nur eine Heirat mit ihm könne Annette vor der Verdammung durch Gesellschaft und Kirche retten. Annette und ihrem Geliebten Lubin gelingt es aber mit einer Kombination aus Sich-zur-Wehr-Setzen und Um-Mitleid-Bitten, die Gunst des örtlichen Gutsherrn oder Grafen (Le Seigneur) zu gewinnen. So endet die Geschichte glücklich mit einer versöhnlichen Geste des Gutsherrn (“ein ebenso weiser wie tugendhafter Mensch”), der sich sogar dazu bereit erklärt, “nach Rom” zu schreiben, um den beiden die Heirat und damit die Sühnung ihres “Verbrechens” zu ermöglichen.
Für die Bühne hat Favart die Motive der Blutsverwandtschaft und der Schwangerschaft sowie den kirchlichen Bezug eliminiert und im Gegenzug Lubins Mut wirkungsvoll dramatisiert, der todesmutig auf den Bailli, die herrschaftlichen Wachen und sogar den Seigneur höchstpersönlich losgeht. Mit den eigentlich spärlichen Eingriffen in die Vorlage erreicht sie eine fundamentale Umdeutung der Quintessenz der Geschichte: Während Marmontel seine Leserinnen ausdrücklich vor allzu naivem Vertrauen auf “die einfachen Gesetze der Natur” – sprich: vor unstatthaften Liebesbeziehungen – warnen wollte, gerät die Bühnenfassung zu einer vorbehaltlosen Apotheose der natürlichen, wahren Liebe der beiden Protagonisten …