Annette et Lubin


Handlung | Schlüsselwerk des Musiktheaters | Entstehung | Musik und Intertextualität | Hybridedition


Autorschaft und Entstehung

Als Hauptautorin des Werkes muss, wie es die Text- und Musikdrucke des 18. Jahrhunderts ausnahmslos eindeutig signalisieren, Marie-Justine-Benoîte Favart (1727–1772, geb. Duronceray) gelten. Sie bezog sich dabei auf eine literarische Vorlage: 1761 veröffentlichte Jean-François Marmontel zum ersten Mal seine Erzählung Annette et Lubin innerhalb der Sammelausgabe seiner Contes moraux. Justine Favart scheint die Bühnenwirksamkeit dieser Erzählung sehr schnell erkannt zu haben. Jedenfalls hat sie sie zum Ausgangspunkt einer vaudevillebasierten opéra comique gemacht. Die originale Gattungsangabe “comédie en un acte en vers, mêlée d’ariettes et de vaudevilles” (übersetzt: “einaktige Komödie in Versen, mit Arietten und Vaudevilles”) stellt in präziser Weise klar, dass das Stück in erster Linie als ein Schauspiel konzipiert ist, dessen musiktheatrale Dramaturgie aber gleichzeitig auf ariettes, das heißt den eigens für das Stück komponierten Gesangsnummern aus der Feder des Fagottisten und Theaterorchesterleiters der Comédie-Italienne, Adolphe-Benoît Blaise (ca. 1720–1772), sowie auf vaudevilles, das heißt allgemein bekannten Lied- und Opernmelodien, beruht. Mit dieser Konzeption ist Annette et Lubin an der Schwelle des Wandels der französischen opéra comique von einem auf Vaudevilles und Opernparodien gestützten Musiktheater zu einer genuin kompositorisch gestalteten Gattung angesiedelt.
Die Karriere Justine Favarts ist eng verbunden mit derjenigen ihres Mannes Charles-Simon Favart, wobei das Paar Favart – er in erster Linie als Autor und Theaterdirektor, der ihr wirkungsvolle Rollen schrieb und verschaffte, sie in erster Linie als Darstellerin, die seinen Texten zum Bühnenerfolg verhalf – gemeinsam zu großem Ruhm und Einfluss im Pariser Opern- und Parodienbetrieb gelangte. Justine Favart wirkte dabei als Tänzerin, Sängerin und Schauspielerin, aber nicht zuletzt auch als überaus fähige und höchst erfolgreiche Autorin. Die Arbeitsweise der Autorin Favart hat Raphaëlle Legrand in einem Aufsatz zu Les amours de Bastien et Bastienne dargelegt (Raphaëlle Legrand, “Les Amours de Bastien et Bastienne de Marie-Justine Favart et Harny de Guerville: parodie ou éloge du Devin du village de Jean-Jacques Rousseau?”, in: Rousseau et la musique, Jean-Jacques et l’opéra, ed. Pierre Saby, Lyon: Département de Musique et Musicologie, 2006, S. 172–194) und dabei auch auf die genderspezifischen Aspekte der Autorschaftsproblematik hingewiesen: In Eile verfasst, waren Vaudevilleparodien häufig Kollektivarbeiten; allein dies rüttele an üblichen Werk- und Autorschaftsbegriffen. Der wissenschaftliche Umgang mit der Mehrfachautorschaft werde, wie Legrand aufzeigt, bedauerlicherweise oft besonders dann problematisch, wenn der Hauptautor eine Frau sei, der man eine schöpferische Rolle oft nicht zugestanden habe. Justine Favart verantwortete aber bei allen ihr zugeschriebenen Werken den Plan der Handlung, die Konzeption der komischen Situationen und die Wahl der Melodien; zudem dichtete sie zahlreiche Couplets und komponierte Vaudevillemelodien. Prosaentwürfe gab sie zur Versifizierung an Literaten aus ihrem persönlichen Umfeld weiter. Im Falle von Annette et Lubin war dies mit großer Wahrscheinlichkeit Jean-Baptiste Lourdet de Santerre, ein Hausfreund der Favarts, der nicht nur über große dichterische Fähigkeiten verfügte, sondern auch einflussreiche Positionen bei Hofe bekleidete. Charles-Simon Favart erhielt die Stücke zur kritischen Lektüre und plante und verantwortete schließlich als Theaterleiter die Aufführung.