Annette et Lubin


Handlung | Schlüsselwerk des Musiktheaters | Entstehung | Musik und Intertextualität | Hybridedition


Musik und Intertextualität

Musikalisch ist Annette et Lubin von großem Reiz, gerade weil Neukomposition und Zitat im unbedingten Dienste des Ausdrucks, aber auch zur vieldeutigen, bisweilen augenzwinkernden Inhaltsvermittlung, eine bemerkenswerte Verbindung eingehen. Einige Beispiele mögen dies stellvertretend verdeutlichen:
Schon die Tatsache, dass die Ouvertüre zu Annette et Lubin keineswegs von Blaise, sondern von dem aus Braunschweig gebürtigen Johann Christoph Bode stammt, ist symptomatisch. Im Repertoire der Comédie-Italienne hatte das musikalische Zitieren und Parodieren traditionell System. In Anbetracht der Tatsache, dass die Opéra über ihr Privileg, Musiktheater zu präsentieren, mit allen, nicht zuletzt rechtlichen Mitteln wachte, war es eine raffinierte ‘Notlösung’ der Pariser Jahrmarkttheater und Opéra-Konkurrenten gewesen, ihre Harlekinaden statt mit neukomponierter Musik mit allgemein bekannten Melodien auszustatten. Witz und Komik ergaben sich sowohl aus den Doppeldeutigkeiten und Anspielungen, die durch die gedachte Überlagerung eines mit der Melodie verbundenen Originaltextes und neuem Text erzeugt werden konnten, als auch daraus, dass die Theaterstücke als Ganzes als tagesaktuelle Parodien erfolgreicher Opern und Ballette des ‘seriösen’ Repertoires konzipiert waren. Der Bode ist v. a. in der Literaturgeschichte ein Begriff, als Verleger, Zeitschriftenherausgeber, Literat und Freimaurer einer der herausragenden Köpfe im Umfeld Lessings und Klopstocks. Bodes mit Lessing abgesprochene Wortneuschöpfung “empfindsam” bzw. “Empfindsamkeit” gab einer ganzen Geistesströmung den Namen. Bode hatte in jungen Jahren von Musikunterricht und Musikerdiensten gelebt – u. a. als Oboist eines in Celle stationierten Regiments –, und war zudem als Komponist tätig. Eine Handvoll Symphonien, Instrumentalkonzerte und Kammermusik sind überliefert, unter anderem aufgrund der Tatsache, dass er Werke in Paris in den Druck bringen konnte. Die als Ouvertüre von Annette et Lubin eingesetzte bodesche Sinfonia XV war als Teil einer Serienpublikation 1761 erschienen, die auch der “Mannheimer Schule” gewidmet war. Warum Favart und Blaise gerade Bodes Sinfonie als Eröffnungsstück gewählt haben, liegt im Dunkeln; dass aber die Wahl beliebig oder zufällig erfolgt wäre, kann ausgeschlossen werden. Schon die ‘empfindsame’ Tonart g-Moll – ungewöhnlich für eine Sinfonie dieser Zeit – nimmt die Grundfarbe und Denkart des Theaterstücks voraus. Darüber hinaus besteht eine handfeste motivische Korrespondenz: Infolge der Drohungen des Bailli, Annettes Verbindung mit Lubin werde ihr, samt eventuellen Kindern, nichts als Unglück bringen, klagt Annette in einer auf Rührung zielenden Soloszene: “Pauvre Annette – arme Annette, welch unergründlicher Schmerz trifft mich. In Tränen und Verzweiflung werde ich also meine Tage verbringen! Und die Kinder, ins Elend gestürzt! Ach, ich verzweifle, wer kann mir noch helfen?” Die musikalische Grundlage dieser Nummer (No. 18) ist eine Arie aus einer italienischen Opera seria, nämlich aus der Metastasio-Vertonung Adriano in Siria von Johann Adolph Hasse. Wie die Sinfonia steht dieses Kern- und Bravourstück von Annette et Lubin in g-Moll, und beide beginnen sogar mit demselben musikalischen Motiv. Es ist heute nicht mehr nachzuvollziehen, wie die Kenntnis dieser damals zehn Jahre alten Dresdner Hasse-Oper aus dem Jahr 1752 in die Pariser Comédie-Italienne gelangte. Bezeichnend ist jedoch, welch großen, gewissermaßen ‘gesamteuropäischen’ Repertoireüberblick die Autoren von Annette et Lubin offenbar hatten.
Ein weiteres Beispiel: Etwas vor der Mitte von Annette et Lubin weist Annette Lubin zurecht, der ihr mit seinem Vortrag der Arie “Du Dieu des cœurs / On adore l’empire” eigentlich hatte gefallen wollen. Sie selbst hatte ihn zuvor zum Singen aufgefordert, woraufhin er ein Stück anstimmte, das er tags zuvor im Schloss gehört habe: “Tiens, tiens; je vais t’apprendre / La chanson qu’au Château l’on me dit l’autre jour” (in der Übersetzung von Christian Felix Weiße: “Weißt du was? ich will dir eins lernen, das ich jener Tage auf dem Schlosse gehöret habe”). Mit den Worten “Tiens, ta belle chanson m’ennuie. / Que veut dire, le Dieu des cœurs?” (“Stille, stille! über den Gesang fang ich an zu gähnen. Was ist das für ein Ding, der Gott der Herzen?”) würgt Annette sein Singen förmlich ab. Der Bedeutungs- und Beziehungsreichtum dieser Szene ist kaum zu überschätzen, schon deshalb, weil es sich bei Lubins Lied nicht um irgendein Lied, sondern um ein Zitat der Schlussarie des Titon aus Joseph Cassanéa de Mondonvilles im Januar 1753 an der Pariser Opéra uraufgeführter Pastorale héroïque Titon et l’Aurore handelt, d. h. aus genau dem Stück, das die Traditionalisten im Zuge der Querelle des Bouffons gegen die italienischen Intermezzi und die französischen Modernisierungsbestrebungen, für die Jean-Jacques Rousseau stand, ins Feld führten. Annettes ästhetisches Verdikt – sie will die Mondonville-Arie, die ihr geradezu gekünstelt und verkopft erscheint, nicht hören geschweige denn erlernen – ist deutlich und hat im weiteren Verlauf des Stückes Bestand. Der damit aufgerufene Kontext aber reicht weit über das aktuelle Bühnengeschehen hinaus und umgreift einerseits auch moralphilosophische Kategorien rund um den Gegensatz zwischen Land/Natur und Hof/Kultur (das naive Naturkind Annette tut sein Misstrauen gegenüber der Künstlichkeit höfischer Sitten kund), andererseits den musik- und literaturästhetischen Abstand des kunstreichen musikalisch-textlichen Stils der französischen Klassik von der ‘natürlichen’ Sprache und Musik des ‘unverbildeten’ Landkinds.
Favart hat an dieser Stelle von Annette et Lubin dafür gesorgt, dass das Publikum diesen Abstand unmittelbar vorgeführt bekommt, denn direkt vor Lubins gutgemeintem Opernzitat hatte Favart (als Annette) ein selbst verfasstes Lied vorgetragen: “Il étoit une fille / Une fille d’honneur / Qui plaisoit fort à son Seigneur” (“Ein Mädchen, das auf Ehre hielt, / Liebt einst ein Edelmann”), eine erzählend-volkstümlich gehaltene Romance über ein Mädchen, das bravourös und beispielgebend ihren lüsternen adligen Herrn in die Schranken weist, gesungen auf die Moll-Melodie eines südfranzösischen Volkslieds (La Pernette). Die Szene, in der dieses Lied erklingt, ist der Schilderung von Annettes und Lubins ländlich-bukolischem Liebesglück im Kreise der Natur gewidmet: Lubin baut eine einfache Hütte, beide besingen ihre Bescheidenheit und ihr Glück (nach dem Motto: “Uns gehören Licht und Luft, unsere Herzen sind rein, was wollen wir mehr?”), sie lauschen den Vögeln nach (in denen sie ihr Vorbild erkennen). Schließlich stimmt Annette für Lubin ein Lied an. Die in Frankreich allgemein bekannte Melodie ist diejenige einer auf das 15. Jahrhundert zurückgehenden Romance. Der Text indes ist vollständig neu, so dass Annette, auch wenn sie scheinbar ‘nur’ ein bekanntes Lied trällert, gleichzeitig eine Parabel auf die Annette-et-Lubin-Problematik zum Besten gibt: “Es war einmal ein ehrenhaftes Mädchen, das seinem Herrn sehr gefiel … Er wollte sie küssen … sie wehrt sich frech mit einer List, indem sie ihn in die Ferne Ausschau halten lässt und sich dabei mit dem Pferd des Herrn aus dem Staub macht.” Das Ganze gipfelt in der fünften Strophe in folgender Moral: “Der Fall lehrt, wie man einen Bösewicht hereinlegt; wenn man nur will, kann man sich sehr wohl verteidigen! Nur leider sieht man so couragierte Mädchen heutzutage allzu selten.”
Hier lässt sich ein weiteres Beispiel anschließen, das nochmals einen Bezug zu Rousseau herstellt, auf den Annette et Lubin sich an einer Stelle ganz ausdrücklich bezieht, wenn nämlich gegen Ende des Stücks, als sich der Konflikt zuspitzt, Annette just auf die Melodie von “Dans ma cabane obscure” aus dem Devin du village beginnt, dem Seigneur ihre Lage und Liebe zu erklären: Der Seigneur bittet Annette, frei und wahrheitsgemäß zu ihm zu sprechen, worauf Sie ganz naiv zurückfragt, “Parle-t-on autrement?” (sinngemäß also: “Wie denn sonst?”) und dann singt: “Monseigneur, Lubin liebt mich … ich liebe ihn auch … wir kennen uns seit frühester Kindheit … er erfüllt mir alle Wünsche … wir sind elternlos und arm, aber zusammen sind wir glücklich” usw. Blaise als gewiefter Arrangeur hat die Begleitung dieses schon bei Rousseau sehr schlicht gehaltenen Liedes zusätzlich auf ein absolutes Minimum reduziert (Violine I colla parte, Violine II mit einer einfachen Unterstimme, kein Bass), und den Eindruck des Naiven und Natürlichen auf diese Weise gegenüber Rousseau nochmals verstärkt. Dieser ‘unverfälschte’, ‘natürlich-naive’ Ton Annettes wird letztlich die entscheidende Wendung für den glücklichen Ausgang des Stücks bringen, das auf diese Weise zu einem gleichermaßen präzisen wie starken philosophisch-politischen Statement wird.