Annette et Lubin


Handlung | Schlüsselwerk des Musiktheaters | Entstehung | Musik und Intertextualität | Hybridedition


Annette et Lubin (1762) – ein Schlüsselwerk des Musiktheaters der Aufklärung

Annette et Lubin von Marie Justine Favart und Adolphe Benoît Blaise ist in mehrfacher Hinsicht ein Schlüsselwerk des französischen Musiktheaters des 18. Jahrhunderts. Uraufgeführt am 15. Februar 1762, handelt es sich um die erste Neuproduktion der neuen Comédie-Italienne, die aus der Fusion der beiden Theatertruppen Opéra-Comique und Comédie-Italienne hervorgegangen war. Die königlich dekretierte Neuordnung des Musiktheaters jenseits des ‘großen’ Opern- und Ballettbetriebs der Académie royale de musique – kurz Opéra genannt – muss als kulturpolitischer Akt ersten Ranges verstanden werden, da die beiden aus der Jahrmarkttheatertradition her stammenden, konkurrierenden Häuser zu einem Theater zusammengefasst wurden: die mit französischem Personal im traditionellen ‘französischen Stil’ agierende Opéra-Comique und die mit italienischem bzw. im ‘italienischen Stil’ ausgebildetem Personal agierende Comédie-Italienne, deren Ästhetik spätestens seit den maßgeblich von Rousseau bestimmten Debatten im Zuge des Buffonistenstreits weithin als moderner empfunden wurde. Die Fusion setzte, wie schon der Name des neuen Theaters anzeigt, ein deutliches Zeichen zugunsten einer Modernisierung. Der neuen Comédie-Italienne wurde überdies der Status eines théâtre royal verliehen, und sie erhielt eine repräsentative Spielstätte im neu renovierten Hôtel de Bourgogne. Als erste Neuproduktion setzte Annette et Lubin sicherlich als eine Art Visitenkarte ein öffentlichkeitswirksames Zeichen im Sinne der ästhetischen und kulturpolitischen Hintergründe der Fusion – mit Erfolg: Bis Ende März stand das Stück fast ununterbrochen auf dem Spielplan, und die sehr umfangreiche Besprechung im Mercure de France lobte nicht nur Text, Darsteller und Musik in uneingeschränktem Maße, sondern wies auch darauf hin, dass das Theater stets voll und die Erstausgabe des Textes bereits vergriffen sei. Annette et Lubin erfreute sich einer außerordentlichen Popularität und wurde bald in ganz Europa in französischer Sprache gespielt; theaterpraktisches Quellenmaterial findet sich bis heute in Dresden ebenso wie in Norditalien oder in Den Haag, um nur einige Beispiele zu nennen. Unter den zahlreichen Übersetzungen und Bearbeitungen in verschiedenen Sprachen ist Ferdinand Hillers und Christian Felix Weißes Singspiel Die Liebe auf dem Lande (1778) die prominenteste und wirkmächtigste, da von ihr bedeutender Einfluss auf die Entwicklung des deutschen Singspiels ausging. In Frankreich gab es bis in die Revolutionszeit hinein nicht nur Wiederaufnahmen von Annette et Lubin, sondern auch mehrere Fortsetzungen und Parodien, ein Phänomen, das in besonderer Weise die Berühmtheit von Annette et Lubin anzeigt, da es offenbar als bekannter Referenztext vorausgesetzt wurde, auf den man Bezug nehmen konnte.
Erfolg, Wirkung und Bedeutung von Annette et Lubin liegen im Stück selbst begründet. Denn als Schlüsseltext des französischen Musiktheaters erscheint Annette et Lubin vor allem auch in inhaltlicher Hinsicht – als ein Stück, das in höchst intelligenter und fortschrittlicher Weise zentrale moralphilosophische und gesellschaftspolitische Themen der Aufklärung verhandelt – sowie in gattungsgeschichtlicher Hinsicht.