Prima la musica e poi le parole


Handlung | Historischer Kontext | Entstehung | Besetzung | Rezeption | Metamelodramma und Intertextualität


Metamelodramma und Intertextualität

Das einaktige Opus zählt zum Genre des metamelodramma1, in welchem die Oper zum Gegenstand der Handlung gemacht wird. Diese Selbstbespiegelung der Gattung hat in der italienischen Oper des frühen Settecento ihren Ursprung, ihre Blüte erlebte sie im letzten Drittel des Jahrhunderts. In diesem metatheatralen Genre wurden vorwiegend die Produktionsbedingungen der Opera seria satirisch ins Visier genommen, die sich beispielsweise in der Ignoranz des Impresarios, den Allüren der Primadonnen oder den Eskapaden der Kastraten konkretisieren konnten. Das Reservoir an Handlungskonstellationen war so unerschöpflich wie die Gegebenheiten der italienischen Opernproduktion. Die gleichsam realistische Ausrichtung dieser Meta-Opern war die Voraussetzung dafür, dass die Personen, die an der Produktion einer Oper beteiligt waren, auch als Bühnenfiguren in Erscheinung traten: Zunächst waren dies vor allem Impresari und Primadonnen, später auch Textdichter und Komponisten.2
Selbstredend verband sich mit dem Umstand, dass die Bühnenautoren respektive die Interpreten sich in den Bühnenfiguren der metamelodrammi spiegelten, ein besonderer Reiz, vor allem für die Librettisten und Komponisten. Die Bandbreite der Möglichkeiten dieser Reflexion ist groß, und es wäre kaum angemessen, diese Selbstreflexion primär auf eine Spiegelung konkreter Personen zu reduzieren. So hat auch die Literatur zu Prima la musica den Versuch unternommen, in der Figur des Poeta zuallererst Casti selbst oder seinen Wiener Widersacher Lorenzo Da Ponte zu erblicken.
Der Grad an Anspielungen und Zitaten ist in Castis und Salieris Oper ungleich höher als in anderen metamelodrammi. Exemplarisch wird dies bereits an dem Problem der Auftragsvergabe deutlich, die Casti in seinem Textbuch thematisiert hat. Der Conte Opizio gibt bei seinen beiden Künstlern, Maestro und Poeta, ein Werk in Auftrag, das diese binnen vier Tagen hervorbringen sollen. Die reale Auftragsvergabe spiegelt sich somit in Castis metamelodramma wider, auch wenn dieser ‚Zeitplan‘ wohl kaum der Realität entsprochen haben dürfte. Strittig ist indes, inwieweit Castis Anspielungen als direkter Reflex auf den konkreten Auftraggeber Joseph II. zu sehen sind, d. h. die scrittura somit als Schlüssel für die Interpretation gelten darf. Sowohl Swenson3 als auch Rice4 gehen beispielsweise davon aus, dass sich hinter dem Conte Opizio ganz konkret Joseph II. verbirgt und Casti folglich mit dem Poeta eine Ironisierung seiner eigenen Person verband. Rice konnte ferner zeigen, dass die in der Oper vorkommende Entlohnung sich direkt auf die konkrete Honorierung von Casti und Salieri beziehen lässt.5
Prima la musica besteht aus insgesamt 13 musikalischen Nummern: einem Quartett, einem Terzett, zwei Duetten und neun Solonummern. Von den solistischen Nummern beziehen sich insgesamt fünf auf präexistente Kontexte, die allesamt in der ersten Hälfte der Oper zu finden sind. Der gesamte Komplex von der No. 2 bis zur No. 6 wird somit weitgehend von fremder, zitierter Musik bestimmt. Die Referenzquelle für diesen Zitatkomplex ist die bereits erwähnte Opera seria Giulio Sabino von Giuseppe Sarti (Text von Pietro Giovannini). Salieri spielt mit der präexistenten Musik in einem Maße, das kaum anders denn als höchst (post-)modern bezeichnet werden kann, da die Frage der Autorschaft den musikalischen Diskurs auf Schritt und Tritt begleitet. Die (reale) Autorschaft der Oper Giulio Sabino wird nirgendwo exponiert – an keiner Stelle des Textes fällt der Name Sarti –, gleichwohl wird sie durch die Nennung des Darstellers Marchesi (“Marchesino”) transparent. Salieri und Casti spielen also auch mit den verschiedenen Autorschaften der Sabino-Partitur, deren originale Werkgestalt vor allem durch die Wiener Aufführungen mit fremden Elementen angereichert wurde. Bemerkenswerterweise nehmen sowohl die Länge wie auch die Komplexität der Zitate im Laufe der zweiten Szene zu. In der Cavatina No. 2 sind es gerade einmal 18 Takte, die Salieri zitiert, in dem Rezitativ und der Arie (Nos. 3–4) bereits zusammen 74 Takte, und in dem Rondò (Nos. 5–6) sind es über 80 Takte. Rein zeitlich gesehen macht der gesamte Zitatkomplex aus Giulio Sabino (in Szene 2) ungefähr ein Sechstel der gesamten Oper aus.
Neben den musikalischen Zitatschichten aus Giulio Sabino lassen sich auf der rein textlichen Ebene verschiedene intertextuelle Modi – in aufsteigender Komplexität – unterscheiden:

1. Anspielungen auf reale Orte bzw. Opernhäuser sowie reale Personen (z. B. Cádiz, Marchesi, Salieri).
2. Nennung von realen Operntiteln, hauptsächlich Opere serie und buffe aus dem zeitgenössischen Repertoire (in No. 8b).
3. Mutmaßliche Operntitel, wie Annibale sull’Alpi oder I vespri siciliani (in No. 8b).
4. Textzitate aus tatsächlichen Opern, z. B. aus Metastasios Alessandro nell’Indie.
5. Textzitate aus mutmaßlichen bzw. fiktiven Opern, wie „Ferma, oh Dio! non son Francese“, „A che proposito / Vuoi tu ammazzarmi?“ sowie „Se questo mio pianto“ (in der ‚Urform‘) aus der fiktiven Oper I vespri siciliani.
6. Textzitate aus dem von Maestro und Poeta zu verfassenden drameninhärenten Opus, z. B. „Se questo mio pianto“, „Per pietà, padrona mia“.
7. Anspielungen auf zeitgenössische Opernszenen oder Szenentypen, wie z. B. die Quäker-Szene der No. 9 oder die Aria No. 10 „Via largo, ragazzi“.

Obwohl die Editoren heute auf äußerst differenzierte Recherche-Tools für die Identifizierung der Zitate zurückgreifen können, sind sie sich gleichwohl auch bewusst, nicht alle Zitate erschöpfend erschlossen, mehr noch einige Kontexte gar nicht identifiziert zu haben. Bei einer dergestalt inter- bzw. transtextuellen Durchdringung eines Librettos, wie sie sich in Prima la musica präsentiert, besteht zwangsläufig die Gefahr, nicht alle Hypo- und Hypertexte dieses metamelodramma wahrnehmen zu können, vor allem angesichts der historischen Distanz von über 200 Jahren.



1 Zum Begriff siehe La cantante e l’impresario e altri metamelodrammi, hrsg. von Francesca Savoia und Roberto De Simone (Genua: Costa & Nolan, 1988), S. 19.
2 Vgl. hierzu Manuela Hager, „Die Opernprobe als Theateraufführung – eine Studie zum Libretto im Wien des 18. Jahrhunderts“, in Oper als Text: Romanistische Beiträge zur Libretto-Forschung, hrsg. von Albert Gier (Heidelberg: Winter, 1986), S. 101–124; Jürgen Maehder, „,A queste piccolezze il pubblico non bada‘: Librettisten und Komponisten als Zielscheibe der Opernparodie“, in Die lustige Person auf der Bühne, hrsg. von Peter Csobádi et al. (Anif: Müller-Speiser, 1994), Bd. 1, S. 237–254; sowie Klaus Pietschmann, „Metatheatralität in der Oper am Beispiel Wiens um 1800“, in Opernwelten: Oper – Raum – Medien. Festschrift für Franz-Josef Albersmeier, hrsg. von Kirsten von Hagen und Martina Grempler (Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2012), S. 91–99.
3 Edward Elmgren Swenson, „Prima la musica e poi le parole: An Eighteenth-Century Satire“, Studien zur italienisch-deutschen Musikgeschichte 7, Analecta Musicologica 9 (Köln und Wien: Böhlau, 1970), S. 112–129.
4 Rice, Antonio Salieri and Viennese Opera, S. 377–379.
5 Ibid.